Vatergeschichten erzählen – warum?

Im September 2019 fand ein erster telefonischer Austausch zwischen einigen Schreibern auf vatergeschichten.de aus. Im Zentrum des Gesprächs stand die Such nach dem verbindenden Element zwischen den Vatergeschichten – und die Frage, warum es besser sein könnte, die Vergangenheit nicht einfach ruhen zu lassen.

 

Es gibt – rein rational gesehen – wenig Gründe, sich als Erwachsener mit Erinnerungen an Kindheit und Jugend zu beschäftigen. Vorbei ist vorbei, die Vergangenheit kann man nicht ändern, man muss auch mal loslassen: Phrasen, die man oft zu hören bekommt, wenn man angeblich zu oft in der eigenen Erinnerungskiste herumkramt.

 

Warum also eine Plattform für Vatergeschichten?

Am 14. September 2019 haben sich erstmals die Schreiber dieser Vatergeschichten in einer zweistündigen Telefonkonferenz ausgetauscht, auch um mögliche Antworten zu finden auf die Frage, worin der Sinn dieser späten Auseinandersetzung mit dem Thema liegen könnte.

Was verbindet uns? Es ist vor allem die Suche danach, wie man mit den Folgen negativer Vatererlebnisse so zurechtkommen kann, dass sie als Teil der persönlichen Geschichte akzeptiert werden können und nicht länger den Alltag oder die Zukunft belasten.

Im Austausch haben wir festgestellt, dass uns dieses Ziel zwar eint, gleichzeitig jeder einen anderen Weg genommen hat. Ein Teilnehmer berichtete, dass er die Geschichte seines Vaters verfilmt und es ihm so gelingt, das Verhalten seines Vaters besser zu verstehen sowie Hindernisse im Umgang miteinander mit Mut und Kreativität zu überwinden. Eine Teilnehmerin schrieb Briefe, andere Tagebuch.

Der gemeinsame Nenner dabei: Allen ist wichtig, sich nicht nur dem Erlebten zu stellen, sondern auch einen neuen Zugang zum Vater zu finden. Es gilt, neue Möglichkeiten zu entdecken aufeinander zuzugehen und Erlebtes gemeinsam aufzuarbeiten und damit im Idealfall innerlich zu heilen. Möglich ist so ein Dialog allerdings nur, wenn Väter noch leben.

 

Die besondere Last der Kriegskinder

Alle Gesprächsteilnehmer stellten fest, dass ihre Eltern während des Zweiten Weltkrieges oder kurz danach geboren worden waren. Alle waren nach dem Krieg als Teenager oder junge Erwachsene damit beschäftigt, Kriegsschäden zu reparieren und das Land wiederaufzubauen. Sie sind Teil einer Zeit, in der Taten wichtiger waren als Worte. Weil Worte oft eine Tür geöffnet hätten zu einem Innenleben, das mitunter stärker beschädigt war als die Häuser und Städte. Die Seelen der Kriegskinder-wurden Kollateralschäden eines brutalen Krieges.

Heute haben Teenager und junge Erwachsene den Schulabschluss im Sinn. Sie schmieden Pläne für Beruf und Zukunft. Die Kriegskinder hatten in demselben Alter mit traumatischen Erlebnissen zu kämpfen, ihre Träume fürs Leben waren durch Krieg und seine Folgen nachhaltig gestört. Über posttraumatische Belastungsstörungen sprach damals niemand, geschweige denn, dass es fachkundige Hilfe für die psychischen Nöte der Hunderttausende von Betroffenen gegeben hätte. Liebe, Zuwendung? Wo und wie hatten die Eltern dies erfahren in einer Zeit des Mangels, in der nur das nackte Überleben zählte?

Können wir als „Kriegsenkel“ von Vätern (und Eltern im Allgemeinen) etwas erwarten, das sie selber vielleicht nie als Fähigkeit entwickeln konnten? Auch das war eine Frage, die im Gespräch mehrfach aufkam.

 

Im Austausch feststellen: Wir sind nicht allein

Diese Vernachlässigung der Seele spürten wir als Kinder und spüren wir oft noch heute, fast ein Jahrhundert später. Es tut gut, gemeinsam darüber zu reden mit Menschen, die aus eigenem Erleben nachfühlen können, wie es dem anderen geht. Es ist leichter, als mit den Eltern ins Gespräch zu kommen, denn sie haben womöglich nie gelernt, über Emotionen oder den Mangel daran zu sprechen. Was im Krieg war, sollte im Krieg bleiben, wurde tief im Keller der Psyche verschlossen. Es musste weitergehen, das Leben musste weitergehen – koste es, was es wolle.

Verstehen, was Eltern bewegt hat und bis heute bewegt, ist oft schwierig, und dennoch ist es wichtig, um eigene Erlebnisse im Kontext der Zeit neu einzuordnen und damit zumindest eine mögliche Erklärung für den erlebten Mangel jenseits von Schuldzuweisungen hinaus zu erlangen.

 

Vergebung als Chance

Ein Teilnehmer berichtete, dass er schrittweise gelernt habe, dem Vater zu vergeben. Vergebung, ein großes Wort. Es bedeutet, jemandem aus der Vergangenheit emphatisch und wertschätzend für seine Möglichkeiten und seine Geschichte zu begegnen und dann darauf zu verzichten, ihm sein Fehlverhalten weiter vorzuhalten.

Es bedeutet nicht, Fehlverhalten gutzuheißen. Sondern dieses im Licht der damals vorhandenen Fähigkeiten zu betrachten. Menschen machen Fehler, auch solche, die andere Menschen emotional verletzen. Wenn wir über unser Verhalten urteilen, lassen wir oft Milde walten, indem wir Historie und gute Absichten mitberücksichtigen. Andere Menschen dagegen beurteilen wir – oft in Unkenntnis von Geschichte und Intention – nur nach ihrem Verhalten.

Uns Vatergeschichten-Erzähler, die wir meist in einem Mangel emotionaler Zuwendung, Respekt, Anerkennung und Wertschätzung aufgewachsen sind, eröffnet eben das auch Möglichkeiten. Festgestellt haben wir, dass wir sensibel für Menschen mit Schwierigkeiten sind, die vielleicht ähnliche Vatergeschichten haben. So berichtete eine Teilnehmerin, dass sie sich während eines Auslandsaufenthaltes für eine junge Frau mit einer schwierigen Vatergeschichte eingesetzt hatte. Andere haben festgestellt, dass sie leicht mit Menschen ins Gespräch kommen, bei denen sich herausstellt, dass auch sie schwierige Situationen mit ihren Eltern erlebt haben.

 

Durch die Hilfe anderer die eigene Geschichte besser verstehen

Das bringt uns wiederum zu der Frage, was wir trotz der alltäglichen Belastungen tun können, um anderen Betroffene Hilfe und Unterstützung zu geben. Uns hat der Austausch über Erlebtes gutgetan – zu entdecken, wie unterschiedlich die Wege sind, um die eigene Geschichte zu verstehen, sie zu akzeptieren und positiv zu verarbeiten.

Vielleicht ist es Zeit, einander zum Gespräch einzuladen? Wir wissen, wie schwierig das Leben sein kann, wenn Vaterbeziehungen nicht gut verlaufen. Wir kennen den Schmerz und die quälenden Gedanken, die unsere Lebensqualität mindern. Wir sind bereit, Ihnen zuzuhören und Gelerntes und Erlebtes mit Ihnen zu teilen. Vielleicht ist das ein erster Schritt auf dem Weg der Heilung von emotionalen Verletzungen.

 

Lassen Sie uns ins Gespräch kommen. Wer weiß, was daraus entstehen kann.