Vaterlosigkeit und ihre Folgen

1963 sah der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich die Deutschen „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“. Diese Schrift machte ihn international berühmt. Durch die beiden Weltkriege, aber auch durch Industrialisierung und Rollenvermischung in der postmodernen Gesellschaft waren Generationen von Familien die gesunden Männer und Väter verloren gegangen – sei es durch Tod oder Traumatisierungen oder aber als Folge innerlicher oder tatsächlicher Abwesenheit.

Was aber macht das mit einer Gesellschaft, wenn das klassische Familien-Trio zum Duo schrumpft? Wenn auf Familienbildern eine Lücke klafft? Wenn immer mehr Kinder mit nur noch einer Bezugsperson aufwachsen? Wenn den Söhnen männliche Identifikationsfiguren und Vorbilder fehlen? Wie und von wem sollen sie lernen, was es heißt, ein Mann und Vater zu sein?

Folgen der vaterlosen Gesellschaft

Viele Studien belegen die negativen Folgen fehlender Väter für Kinder und Jugendliche. In unvollständigen Familien steigen das Risiko für psychische Auffälligkeiten sowie die Wahrscheinlichkeit, kriminell zu werden, deutlich an. 85 Prozent der Gefängnisinsassen etwa haben keinen präsenten Vater erlebt. Kinder alleinerziehender Eltern neigen statistisch gesehen eher zu aggressivem Verhalten. Kinder mit abwesenden Vätern leiden vermehrt unter Selbstwertproblemen und Suchtverhalten. Auch Übergewicht und Depressionen werden offenbar durch Vaterlosigkeit begünstigt. Mädchen, die vaterlos aufwachsen, werden früher sexuell aktiv.

Was fehlt diesen Kindern tatsächlich? Beispielsweise die Möglichkeit, den männlichen Teil der Liebe und Schutz gebende Grenzen zu erfahren. Um Urvertrauen zu entwickeln, sich geliebt und wertvoll zu fühlen, um Grenzen zu entdecken, Fehler machen zu dürfen, sowie Mitgefühl zu entwickeln – für all das braucht es Mutter und Vater als liebevolle Vorbilder. Gerade für Söhne ist es enorm wichtig, im Vater ein stärkendes und stützendes männliches Vorbild zu erleben. „Mann sein“ kann man nur von Männern lernen.

 

Aufgaben des Vaters in der Erziehung:

  • Der Vater führt das Kind in die Welt außerhalb der familiären Geborgenheit.
  • Der Vater ist das große Vorbild und der Held seines Sohnes; er vermittelt ihm Wert, Würde und innere Stärke.
  • Der Vater ist der erste Mann im Leben der Tochter; er spiegelt ihr ihre Schönheit und ihren Wert für die Welt der Männer und die Gesellschaft.
  • Der Vater hilft seinen Kindern dabei, ihre männliche und weibliche Identität sowie ihren Weg zur Berufung zu finden.
  • Der Vater lehrt die Kinder Demut und Achtung vor der Schöpfung sowie eine gesunde Spiritualität.

Durch den Vater vervollständigt sich die Weltsicht des Kindes um das männliche Prinzip. Vaterliebe zu betonen, bedeutet aber nicht, Mutterliebe kleinzureden, von der ebenfalls eine stärkende und Mut machende Kraft ausgeht. Erziehung gelingt, wenn Vater- und Mutterliebe sich ergänzen. Das Ganze ist auch in diesem Fall mehr als die Summe der einzelnen Teile.

Die Bindungsforschung aber schätzt, dass es gerade mal 50 Prozent der Väter gelingt, in den ersten Lebensjahren ihrer Kinder eine sichere Bindung zu diesen aufzubauen. Umgekehrt bedeutet das, dass jeder zweite (!) Vater an dieser elementaren Aufgabe scheitert.

Die Vaterwunde

Der US-Amerikaner John Eldredge schreibt in seinem Weltbestseller „Der ungezähmte Mann“, er sei noch keinem Mann ohne Vaterwunde begegnet. Das fehlende Vater-Vorbild führt nicht nur oft zu einem Versagen der Männer in der beruflichen Welt, sondern auch zu schwierigeren Ehen und häufigeren Trennungen, was wiederum meist zum Verlust des Vaters in der nächsten Generation führt: Auch die Kinder eines Vaterlosen wachsen häufig ohne Vater auf.

Wird diese tiefe, innere Wunde des Mannes nicht geheilt, suchen manche Männer ihr Leben lang nach Anerkennung in der Männerwelt – sei es durch Arbeit, Krieg, Sucht, Sport oder Geld. Manchmal verfallen sie auch in Depressionen. Es fehlt ihnen an Halt und innerer Kraft, um ihrer Rolle in Familie und Gesellschaft gerecht zu werden.

Mann und Vater sein: Was bedeutet das?

Wie viele Männer haben einen echten Freund, mit dem sie über alles – auch über ihre Ängste und Niederlagen – sprechen können? Wie viele Männer suchen gelegentlich die Einsamkeit, um zu sich zu finden? Wie viele Männer lassen es zu, dass sie die Wunden, die ihnen das Leben schlägt, auch fühlen und ausdrücken? Und nicht zuletzt: Wie viele Männer suchen Gott, um sowohl Demut als auch wahre innere Stärke und ihren persönlichen Sinn zu finden?

 

Geliebter Sohn, Abenteurer, Kämpfer, Liebender, König, Weiser:

Sechs Entwicklungsstufen gilt es zu durchlaufen auf dem Weg zum Mann. Der gesunde Mann hat alle diese Stufen bewältigt und hält sie in seinem Inneren lebendig und im Ausgleich. Denn was wäre ein Kämpfer ohne Liebe und König, was ein Abenteurer ohne Ziel, was ein Weiser ohne Taten?

Um von einer Stufe zur nächsten zu gelangen, müssen sogenannte Entwicklungskrisen bewältigt werden. Damit dies gelingt, brauchen Söhne gesunde Väter als Vorbilder.

Der US-amerikanische Prediger Richard Rohr wiederum spricht von zwei Lebenshälften. In der zweiten Lebenshälfte geht es nicht mehr um uns und unser Ego, sondern darum, die uns geschenkten oder auch erarbeiteten Gaben und Talente mit anderen zu teilen und sie weiterzugeben. Das, so Rohr, ist wahre Männlichkeit.

Entscheidend jeweils ist, Verantwortung zu übernehmen – für unsere Heilung, für unsere Fehler und Schwächen. Für unsere Familien und für andere Menschen. Für Versöhnung.

Mag der Mann nun ungezähmt, wild, weise oder zärtlich sein – entscheidend ist lediglich, dass er auf diesem Weg er selbst wird. Und dabei sein Herz sowie seine Leidenschaft für das Gute und die Liebe entdeckt.

 

Ausblick auf Heilung

Meiner Ansicht nach als Psychotherapeut und auch als Mann ist für diese Entwicklung zum „wahren“ Mann die Erkenntnis des Scheiterns, des inneren Zusammenbruchs und der eigenen Wunden unabdingbar. Und genau darum auch die Hilfe anderer Männer.

Männliche Vorbilder und liebevolle Begleiter sind gerade in Zeiten der Krise unersetzlich. Auch das Aufsuchen der Stille und Einsamkeit, das Zerbrechen des Egos und falschen Selbst sowie die Hinwendung zu Gott als spirituelle Vaterfigur sind entscheidende Aspekte der Heilung unserer Vaterwunde.

Vater zu werden kann dabei Krise, aber auch eine Chance sein, sich mit der eigenen Kindheit, dem Vater und Vatersein auseinanderzusetzen. Die innere oder äußere Versöhnung mit dem Vater und dessen Geschichte spielt in diesem Prozess eine wichtige Rolle. Das Erkennen der eigenen Wunde ist Voraussetzung für Vergebung und Selbstvergebung. Nur so kann innere Heilung gelingen.

Fachbeitrag von
Dr. med. Klaus Hettmer
Facharzt für psychotherapeutische Medizin