Höher, schneller, weiter, besser

Auf dem Schwarz-weiß-Foto hält mein Vater das in Strickwaren verpackte Baby, das ich damals war, wie einen Fremdkörper in Händen. Das alte Bild mit dem leicht welligen Rand erzählt bis heute von der Distanz, die immer zwischen ihm und mir herrschte. Auch wenn letztendlich er der Fremdkörper in unserer Familie war und blieb bis zum Schluss.

Ich weiß noch, wie verwundert ich war, als ich in meiner Kindheit bei Freundinnen Väter erlebte, die ihre Töchter und Söhne in den Arm nahmen, sie kitzelten, sich mit ihnen rauften oder auch einfach nur mit ihnen aneinander gelehnt auf dem Sofa saßen. Körperkontakt jeder Art war bei meinem Vater – wenn es ihn denn gab – mit Leistung verbunden: In einer meiner Kindheitserinnerungen steht er am Fuße einer eisernen Dachbodenleiter und feuert mich an, immer noch eine Stufe höher zu klettern und dann in seine Arme zu springen. Höher, schneller, weiter, besser – das waren die Kategorien, in denen mein Vater in Bezug auf seine Kinder dachte. Er wollte uns nicht Geborgenheit geben, sondern wir sollten ihn stolz machen. Selbst wenn wir mit einer „1“ von der Schule nach Hause kamen, fragte er nach den Klassenkameraden, die noch weniger Fehler gemacht hatten.

In der Teenager-Zeit vergrößerte sich die Distanz weiter; mein Vater war für mich der Mann, der lesend in seinem Sessel saß, meist zu viel Whiskey trank und – von unkalkulierbaren Wutausbrüchen abgesehen – kaum Anteil nahm am Familiengeschehen. Heute vermute ich, dass er gerne gewollt hätte, aber nicht wusste, wie: War er doch selbst aufgewachsen mit einem abweisenden und nur leistungsorientierten Vater, dessen Ansprüchen er nie genügen konnte.

Warum hatte er, groß geworden als Einzelkind, eine Frau geheiratet, die aus einer lebenslustigen, liebevollen Großfamilie stammte? Warum wollte ausgerechnet ein Einzelgänger wie er vier Kinder haben? In meinem Vater haben Wunsch und Wirklichkeit nie zueinander gefunden, weil er schlicht nicht in der Lage gewesen ist, aus seinem eigenen Schattendasein hinauszutreten. Ins Studium schickte er mir mit dem monatlichen Unterhaltsscheck immer ein paar Zeilen, leider stets auf Latein geschrieben. Ich bemühte mich erst gar nicht, diese zu übersetzen, sondern warf sie einfach weg.

Mein Vater starb alleine, ich habe ihn in seinen letzten Lebensjahren nicht mehr gesehen, und auch er hatte keinen Versuch gemacht, wieder Kontakt zu mir aufzunehmen. Das Traurigste an seinem Tod war für mich die Tatsache, dass er keine Lücke in meinem Leben hinterlassen hat. Getrauert habe ich nicht um den Vater, den ich hatte, sondern um den, der er vielleicht hätte sein können.

Jahre später erfuhr ich über Verwandte, mein Vater habe stets gesagt, ich sei ihm von seinen Kindern am nächsten gewesen. Dass ich davon zu seinen Lebzeiten nichts gemerkt habe, macht mich bis heute betroffen.

Foto: Privatarchiv