Muffes Mädchen

Hallo lieber Vater,

ich versuche zu verstehen. Es sind noch so viele Fragen ohne Antwort: Wo warst du als mein Vater? Wo war deine Liebe, deine Förderung für mich? Weshalb wolltest du überhaupt jemals Kinder, eine Familie? Warum kamst du nie am Elterntag in der Schule?

Ich  bin nicht mehr wütend auf dich. Unsere Gespräche, sie sind heute distanziert. Ich höre zu, sage meist nicht viel. Stört dich das? Erwartest du von unserer Beziehung zueinander mehr als dieses oberflächliche Beisammensein? Es wirkt nicht so, als würdest Du darunter leiden.

Ich habe mich jedes Mal sehr erschrocken, wenn du früher in mein Zimmer reingeplatzt bist. «Ja, d’s Gaby… mmmhmmm.» Manchmal hast du nur Geräusche gemacht, «chchchch».  Als ob etwas in deinem Hals stecken würde, waren es Worte? Tür zu. Ich dachte, du wolltest mich ärgern und stören, aber vielleicht wolltest du einfach nur nachsehen, ob ich noch da war.

Vielleicht hast du dich auch etwas verloren gefühlt in meinem Zimmer, weil ich das Bücherwissen aufgesogen habe. Hast du gemeint, ich hielte dich deswegen für dumm? Bildung ist für Dich kein Wert an sich. Für Dich zählt körperliche Arbeit, weil Du in Deinem Leben nichts anderes erfahren hast. Du warst gerade mal 15 Jahre alt, als Du als «Verdingbub» weggeschickt wurdest auf einen entfernten Hof. Du wolltest nicht weg von der Familie, solltest aber Geld verdienen für die anderen daheim. Du musstest schon früh mehr leisten, als Dein heranwachsender Körper leisten konnte. Hast Du gelitten? Geweint? Wärme und Geborgenheit vermisst? Was ist Dir damals widerfahren? Gerne würde ich fragen. Aber Du kannst kaum erzählen.

Hat es etwas mit Deinen frühen Erlebnissen zu tun, dass Dir dieses Gespür für Nähe und Distanz, für die Achtung vor der Privatsphäre fehlt? Ich wollte immer, dass du anklopfst vor Deiner Zimmervisite. Warum hast du es nie gemacht? Ich fühlte mich nicht sicher vor dir, war immer angespannt: Wo bist du gerade? Ich konnte nicht einmal in Ruhe duschen, weil du probiert hast, mich durch das Fenster zu beobachten. Ich habe damals begonnen, meinen Körper zu verstecken. Meine Weiblichkeit zu verachten.

Irgendwann habe ich zugemacht. Und eine Mauer aufgebaut, hinter der ich geweint habe, meine Gefühle versteckt und meine Wut verborgen habe. Jeden Tag. Jahrelang. Ich habe mich nicht mehr gewehrt. Immer ein trauriges Gesicht, in deinen Augen war ich «ein muffes Mädchen». Meine Worte wurden immer weniger aus Angst, es könnte etwas Falsches und Sinnloses sein. Du bist mir immer ins Wort gefallen und hast mich nicht angehört. Bis ich schließlich ganz verstummt bin.

Deine Worte wiederum erschienen mir leer und verletzend, da sie hauptsächlich darin bestanden, andere – mich – abzuwerten, auszulachen und respektlos zu behandeln. Erging es dir so in deiner Jugend? Wurdest du ausgelacht, lieblos behandelt? Hat Dich jemand angehört? Hattest Du Rechte, die geachtet wurden? Woher kommt Dein Sarkasmus? Warum lacht man über Kriege?

Wenn du dich über die anderen lustig gemacht hast, fühlte ich mich betroffen, da auch ich zu den Anderen gehöre. Heute weiß ich, dass derjenige über die Dummheit der anderen lacht, der selbst innerlich Angst hat, dumm zu wirken. Damals aber fühlte ich mich emotional verletzt. Ich wollte deine Worte abwehren, ich wollte mich aus dem Fenster stürzen, ich wollte weg. Ich wünschte mir, du wärst nicht da. Ich wollte lieber ohne Vater aufwachsen. Ich habe mich total zurückgezogen, Bücher und Schokolade konsumiert, mir Schutzpolster angefressen. Und mich so nach Liebe und Freiheit gesehnt.

Heute bin ich 43 Jahre alt, kinderlos, war nie verheiratet. Meine Matura war nicht mal so schlecht, aber ich habe dann doch nicht Medizin studiert, weil ich an mir zweifelte. Stattdessen habe ich versucht, schnell Geld zu verdienen. Ich wollte unabhängig sein, möglichst bald.

Du bist nach Südamerika gezogen, hast dort ein zweites Mal geheiratet. Jahrelang habe ich nicht mit dir gesprochen. Bis du mich – als letztes Deiner vier Kinder – gefragt hast, ob ich Dich besuchen komme. Ich habe lange gezögert. Und dann doch ja gesagt, weil ich nun einmal nur einen Vater habe, und der bist du. Ich habe mich damals bei dir entschuldigt für meine Wand, meine Wut dir gegenüber. Habe ich es wirklich so gemeint? Ich ahnte bereits, dass die Schuld nicht alleine bei mir gelegen hat.

Ich war noch nicht so weit, als dass ich diese Jahre von seelischem Schmerz wirklich verarbeitet gehabt hätte. Da waren noch so viele Verletzungen, kaum verheilte Narben. Und ich bin noch immer dran, all das zu verarbeiten.

Es liegt Leere, Traurigkeit und Unzufriedenheit in der Luft, wenn ich dich heutzutage sehe. Fremd bist du mir. Ich zehre von einer schönen Erinnerung: Einmal waren wir «schlitteln», mit dem Rodel unterwegs, nur du und ich. Ich hatte Spass dabei. Erinnerst Du Dich?

Mich zu lösen von Deinem Einfluss, mich herauszuarbeiten aus dem engen Kokon meiner Kindheit und Jugend in Deiner Nähe, die doch nie eine war – das kostet mich Kraft und ist ein noch lang nicht beendeter Prozess. Ich bin dankbar für meine späteren Erfahrungen, die mir gezeigt haben, dass ich etwas kann. Dass ich Freunde haben kann, langjährige Freunde, eine Art Familienersatz. Ich setze mich für Soziales ein, helfe Menschen, ihren Platz zu finden, Selbstvertrauen zu entwickeln und ihre Vatergeschichten anzunehmen. Ich möchte mich verbal und künstlerisch ausdrücken. Ich liebe Farben, möchte meine graue Welt aufpeppen.

Heute kann ich Dir gegenüber immerhin «Stopp» sagen, wenn Du mich oder andere mit Worten niedermachst. Du hörst dann auf damit, zumindest für diesen einen Tag. Ich habe hart für mein Selbstvertrauen gearbeitet, und oft will es mir wieder entgleiten. Ich möchte meine Gefühle wieder spüren. Meine innere Rebellin lieben. Woher sie wohl kommt? Sie will frei sein.

Manchmal mag ich mich, auch ohne Antworten zu haben.

Ich möchte hier noch meine Brüder loben, sie sind gute Väter. Und meine Schwester eine liebevolle Mutter. Eine schöne Grundlage der Liebe für die Kinder. Ich danke Euch im Namen der Kinder.