Zeichnen-Zwang

„Zur Eröffnung der Olympischen Spiele 1972 wurde ein Malwettbewerb für Kinder ausgerufen mit der Aufgabe, ein Bild zum Thema Olympia zu zeichnen. Ich war zu dem Zeitpunkt sechs oder sieben Jahre alt war und spielte am liebsten im Garten. Darauf, Bilder mit Ölfarbe zum Thema Olympia zu malen, hatte ich gar keine Lust – zumal ich nicht einmal genau wusste, was Olympische Spiele sind und inwiefern sie interessanter sein sollten als mein Spiel.

Mein Vater hingegen schien mit diesem Thema viel zu verbinden. Vermutlich ahnte er zu diesem Zeitpunkt schon, dass er bald sterben sollte. Wer würde in den letzten Momenten des Lebens nicht versuchen, an den Sohn weiterzugeben, was ihm wichtig erscheint? Als Teenager zum Militär eingezogen, war mein Vater früh seiner beruflichen Träume beraubt worden. Später, als Kriegsversehrter ohne abgeschlossene Berufsausbildung, ernährte ihn sein künstlerisches Talent zunächst. Wie bedeutsam es für ihn war, mir zu vermitteln, dass Zeichnen und Malen – zumindest aus seiner Perspektive – überlebenswichtig sein können, habe ich erst im Rückblick verstanden. Als Kind hatte ich es schlicht so empfunden, dass er mir meinen Spaß missgönnt und ihn mir raubt.

Meine Kinderwelt brach damals zusammen: Mein Vater limitierte die Spielzeit im Garten und zwang mich stattdessen, etwas zu zeichnen, das für mich keinerlei Bedeutung hatte. In Erinnerung geblieben sind mir meine Wut und mein Ärger sowie das ohnmächtige Gefühl, sich diesem „Zeichnen-Zwang“ nicht entziehen zu können.

Zudem zeigte sich mein Vater mit allen meinen Bemühungen nicht zufrieden. Und soweit ich erinnere, ließ er mich sehr deutlich spüren, dass ich seinen Ansprüchen nicht genügte und wohl auch nie genügen werde. Von dem Menschen, der mir viel bedeutet hat, zu etwas gezwungen zu werden und dann nur Kritik zu ernten, hat mich zutiefst verletzt.

Einige Monate später starb mein Vater.

Der Zwang, den ich damals empfunden habe, kann meine Empathie heute nicht ungeschehen gemacht. Jedoch hat sich meine Perspektive geändert: Ich sehe in dem damaligen Verhalten meines Vaters nicht mehr die bewusste Missachtung meiner Wünsche, sondern seine Hilflosigkeit angesichts einer Situation, der er sich nicht gewachsen fühlte. Hätte er geahnt, dass ich sein Verhalten interpretiere als einen gezielten Versuch, mir zu schaden – ich denke, er hätte sich anders entschieden.

Doch in den Jahren nach seinem Tod verfestigte sich in mir der Gedanke, dass mein Vater mir absichtlich Schaden zufügen wollte. Ich wollte, dass diese Ungerechtigkeit wieder gut gemacht wird, ich wollte Liebe statt Zwang, Akzeptanz statt Ignoranz. Mit diesen Gefühlen bin ich neue Freundschaften eingegangen in der unbewussten Hoffnung, dass sie wiedergutmachen, was mir vom Vater vorenthalten wurde. Meine neuen Freunde wussten jedoch nichts von diesem Defizit; sie empfanden meine Forderungen als merkwürdig und zogen sich in der Folge häufig zurück. Ich blieb alleine mit meinem unerfüllten Wunsch nach Wiedergutmachung.

Erst viele verlorene Freunde später konnte ich andere Perspektiven auf die schmerzhafte Situation mit meinem Vater entwickeln und mich auf eine Reise in die Vergangenheit machen, die mit Vergebung und neuen Gedanken endete.“

Foto: Privatarchiv