Er fragte nie, wie es mir ging

Die Geschichte, die ich über meinen Vater erzählen will, muss mit meiner Mutter beginnen. Mit einer Szene, die mir meinen Lebensmut genommen hat und mich geprägt hat für alle späteren Liebesbeziehungen. Dass dem so war, ist mir erst sehr spät bewusst geworden.

War es der Sommer 1968 oder 69? Ich war sieben, vielleicht auch acht Jahre alt und allein mit meiner Mutter in diesem Urlaub in Bad Sachsa (Harz). Draußen spielten Kinder, ich hörte ihr Lachen, ihre Stimmen. Doch ich saß in dem braun getönten, abgedunkelten Zimmer auf dem Boden und spielte mit einer Postkutsche. Ich sollte nicht raus. Hatte ich Angst?

Links neben mir auf dem Bett lag meine Mutter. Sie sagte nichts, starrte nur an die Decke. Stundenlang. Dann drehte sie sich zur Wand. Weg von mir.
Seit 2010 recherchiere ich für einen Film über meinen Vater. Er erzählt viel, aber zugleich auch wenig. Von der Natur spricht er, vom Dorfleben in seiner Kindheit, von der Schönheit der märkischen Alleen. Eigentlich schweigt er in den vielen Worten. Und lächelt dabei freundlich.
Mein Vater ist 1926 geboren. Er war 16 Jahre alt, als seine beiden älteren Brüder kurz hintereinander fielen. Er erzählt, dass er weggelaufen sei, als seine Mutter, am Gartenzaun stehend, die Nachricht vom Kriegstod des Bruders erhielt und zusammenbrach. Anstatt bei ihr zu bleiben, rannte er weg und kam tagelang nicht zurück.

Später sitze ich am Schreibtisch und entwerfe eins der ersten Plakate für meinen Film. Eine Stalinorgel ist darauf zu sehen. Unvermittelt erwähnt mein Vater einen Angriff mit einer Stalinorgel in Litauen. Als er nach der Attacke aus dem Schützengraben herausschaute, war ein Großteil seiner Einheit umgekommen. Am nächsten Morgen musste er mit Kameraden die gefrorenen Leichenteile einsammeln. „Wir konnten alle nicht mehr weinen“, sagt er.

1950 kehrte mein Vater aus russischer Gefangenschaft zurück. Nach Berlin ging er, wurde Teil des deutschen Wirtschaftswunders. Der gutaussehende Fleischergeselle arbeitete hart und war erfolgreich, eine eigene Fleischerei in Berlin-Schöneberg wurde ihm angeboten. Eine erste Ehe scheiterte. Auf dem Berliner Kaiserdamm dann lernte er meine Mutter kennen, der Junge aus Küstrin und die schöne Uckermärkerin. 1961 kam ich zur Welt.
Der Fleischerladen, sagt er, das war eine tolle Zeit. Das mit dem Krieg? Mein Vater wollte vergessen. Meine Mutter konnte er kaum in den Arm nehmen. Plötzlich erzählt er, dass sie oft in wochenlanges Schweigen fiel. Ohne Grund, sagt er. Er hat allerdings auch nicht danach gefragt. Aus Angst vor der Antwort? Ich berichte ihm die Szene vom Urlaub in Bad Sachsa. Er wusste nichts davon. Sie hat nichts gesagt.

Mich hatte die Urlaubserinnerung 2014 in Portugal eingeholt, sie blitzte plötzlich auf, unerwartet und doch erhofft. Sie kam in einer Zeit, in der es mir seelisch sehr schlecht ging, meine große Liebe war gerade zerbrochen, die letzte nach einer Reihe gescheiterter Lieben. Dass in allen meine Beziehungen stets der Urlaub ein Drama wurde – ein Zufall? Zunächst ist der Impuls da, das Bild vom braunen Zimmer zurückzudrängen und wieder zu vergessen, doch ich entscheide mich dagegen. Ich weiß, dass ich hinschauen muss, auch wenn es schmerzt. Das Bild vervollkommnet sich langsam, ich baue das Zimmer nach, richte es ein, den Teppich, die geschlossenen Fenster. Und bin verblüfft, wie sicher ich bin, dass die Beine des Bettes ganz kurz waren.

Die Einsamkeit. Das Eingesperrt-sein. Meine Angst vor dem „Draußen“. Mein Drang, mich größer zu machen, um gesehen und gehört zu werden. Meine Kindheitserlebnisse haben alle meine späteren Lebensbereiche betroffen, meine Beziehungen, mein Beruf, die Erziehung meiner Tochter, mein Selbstbewusstsein, die Sexualität sogar. Die Erfahrungen mit meinen Eltern haben auch ganz wesentlich mein Gottesbild geprägt. „Ein abwesender, schweigender Vater, der mich materiell versorgt, aber dem ich sonst relativ egal bin“ – so hätte ich Gott noch vor ein paar Jahren beschrieben.

Ich musste mir selbst die Tür öffnen, musste mich befreien. Als ich es schließlich tat, als ich mich der Familie mit all meinen Gefühlen offenbarte, hörten meine Furcht, mein ständiger Neid auf andere und meine Eifersucht auf. Ich wurde ein lebensmutigerer Mensch.
„Glaubst du denn, ich habe keine Gefühle?“, hat mich mein Vater bei einem unserer Gespräche für den Film gefragt. „Ich glaube, du hast zu viele Gefühle, weil du zu viel Schlimmes erlebt hast“, entgegnete ich ihm. Er rennt weg vor den Gefühlen, wie damals, als seine Mutter am Gartenzaun zusammengebrochen war. Er hat mich nie gedrückt, nie gefragt, wie es mir geht. Wir haben all die Jahre miteinander geredet und doch nichts gesagt. Still war die Wut meist, die in unserer Familie hing, bis sie schließlich an die Oberfläche drängte und durchbrach. Zuletzt hatte ich mit meiner Mutter nur noch gestritten. Sie starb vor zehn Jahren.
Die Arbeit an dem Film bringt mich meinen Eltern näher. In den Szenen ihres Lebens spüre ich ihre Ängste. Ich verstehe. Heute würde ich wohl sanfter sein zu meiner Mutter, verständnisvoller. „Geh zu einem Arzt, du brauchst Hilfe“, würde ich sagen. Den Satz, den mein Vater damals hätte sagen sollen. Wenn er gefragt hätte, wie es ihr geht.

Mein Vater sieht sein Leben in dem Film. Er sieht sich zu, wie er sein Leben lang sich selbst zugesehen hat. Ohne Stellung zu beziehen, ohne einzugreifen in das Geschehen. Aber ich sehe, dass ihm Vieles leidtut. Bis heute kann er mich nicht in den Arm nehmen. Fragt kaum, wie es mir geht. Lächelt. Ich habe gelernt, ihn zu lieben. Und er liebt mich. Auf seine Art. Das weiß ich.
Meine Tochter liebt ihren Opa bis heute. Der die schönen, einfachen Geschichten erzählt. Nach nichts fragt. Und ich verstehe langsam, Gott sei Dank. Der Film ist noch nicht fertig. Doch das Licht ist bereits zu sehen.

Foto: Privatarchiv